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Natur in der Stadt

Ich stehe vor der Haustür und schaue hoch in die Wipfel von Waldtraud, unserer Fichte. Es ist noch früh und kühl, mein Atem malt kleine Wolken in die Luft. Aus Waldtrauds dichtem Wipfel gurrt eine Ringeltaube, dann scheckert eine Elster. Ich sehe sie nicht, aber wahrscheinlich sieht sie mich. Ich fühle mich ein bisschen beobachtet, wie ich hier so stehe.

 

Also, los geht‘s, heute habe ich eine Aufgabe.

 

 

 

Diesmal muss ich zuerst durch ein paar vorstädtische Straßen und Unterführungen. Wobei, was heißt „zuerst“. Heute darf ich schlendern, ganz im Hier und Jetzt sein und Verbindung mit der Natur aufnehmen. Und die wilde Natur, die ist auch hier, an jeder Straßenecke. Wenn meine Aufmerksamkeit gerade nicht von vorwitzigen Kohlmeisen und Spatzen gefesselt wird, bestaune ich all die frischen Triebe der Wildkräuter, die dem Hundepipi zum Trotz auf jedem noch so kleinen Stückchen Grünfläche dem Himmel entgegen wachsen.

 

 

 

Für mein Artenstudium in der Wildniswind-Ausbildung suche ich eine Esche. Eschen wachsen gerne in Wassernähe und deshalb bin ich unterwegs zu den wilden Ufern der Lahn. Im letzten Sommer war ich dort einige Male an einer versteckten Stelle mit einem Baum, dessen Äste weit über den Fluss ragen. Es ist ein wunderbares Gefühl, über dem rauschenden Wasser zu sitzen. Aber ist dieser Baum eine Esche? Oder eine Erle? Ich weiß es nicht, letzten Sommer habe ich darauf noch nicht geachtet. Bisher habe ich Eschen wenn, dann an den Blättern erkannt und ich bin unsicher, ob es mir jetzt, im Winter, gelingt, sie zu bestimmen.

 

 

 

Ich überquere die weite Wiese eines Sportplatzes und weiß gar nicht, wo ich hintreten soll vor lauter kleiner, frischer Schafgarbe, Scharbockskraut und sogar Vogelmiere. Ich höre den Fluss bereits rauschen, aber noch bevor ich das Ufer erreiche, sehe ich sie: eine kleine Gruppe strauchartiger Bäume mit heller Rinde. Und ich weiß es plötzlich ganz sicher. Das sind Eschen. Ich geh nahe ran und untersuche die Knospe. Es passt alles. Ich halte inne.

 

Eigentlich habe ich konkrete Fragen dabei, ausgedruckt, im Rucksack. Aber lange stehe ich einfach nur da. Befühle die Rinde, die Knospen. Umrunde die Bäume. Erkunde den Boden und die Umgebung. Schaue zu, wie sich die Äste im Wind wiegen. Ein winziges Goldhähnchen setzt sich zwitschernd in den Wipfel.

 

Die Eschen stehen nicht weit entfernt von einem Radweg und zum Weg hin hat die Stadt offensichtlich einmal großzügig die Motorsäge geschwungen. Jetzt, da mir Holz und Rinde vertraut sind, erkenne ich, dass unter den Schnittresten auch kleine Schwestern meiner Eschen sind. Ich freue mich, so einfach an gutes Schnitzholz zu kommen.

 

Auf einmal erkenne ich noch viele kleine junge Eschen. Wie Pfeile schießen sie aus einem dichten Gestrüpp von Brombeer- und Wildrosenranken. Als würden sie aufzeigen und rufen: Hallo, hallo, ich bin ich, hier bin ich!

 

 

 

Hallo, liebe Eschen! Ich bin froh, euch heute kennen gelernt zu haben!

 

 

 

Der Baum, auf dem man so herrlich über dem Fluss sitzen kann, hat sich übrigens als Erle entpuppt.

 

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